Niki de Saint Phalle, mit bürgerlichem Namen Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle, kommt am 29. Oktober 1930 als Tochter einer franco-amerikanischen Adelsfamilie im vornehmen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine zur Welt. Unter strengen katholischen Erziehungsgrundsätzen wächst sie teils in Frankreich bei den Grosseltern, teils in Amerika in Kloster- und Mädchenschulen auf und macht 1947, nach zahlreichen Schulwechseln, in Maryland ihren Abschluss. Im Anschluss erlernt sie weder einen Beruf, noch beginnt sie ein Studium. Stattdessen nimmt sie eine Stelle als Fotomodell beim Modefotografen Erwin Blumenfeld an. Als sie achtzehn Jahre alt ist heiratet sie den reichen Amerikaner Harry Mathews. 1952, nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Laura, zieht die kleine Familie nach Paris in das Künstlerviertel Montparnasse und lernt bedeutende Künstler wie Jean Tinguely und Constantin Brancusi kennen.
Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass sich de Saint Phalle seit ihrer Kindheit mit der gesellschaftlichen Rollenverteilung, dem Patriarchat und den damit verbundenen gesellschaftlichen Zwängen auseinandergesetzt hat. Dementsprechend fällt es ihr nach der Heirat und der Geburt schwer, ihre eigene Individualität aufrecht zu erhalten und ihre persönlichen Ziele und Wünsche zu verfolgen. Dieser Konflikt zwischen Mutterpflicht und Selbstverwirklichung und Erlebnisse aus der Kindheit, wie der sexuelle Missbrauch durch den Vater, führen 1953 schliesslich zu einem psychischen Zusammenbruch. In einer Psychiatrie in Nizza beschäftigt sie sich mit Kunst, als eine Form der Therapie. De Saint Phalle ist eine Autodidaktin, die die Kunst während einer psychischen Notlage für sich entdeckt hat.
Zwischen 1953 und 1958 entstehen ihre ersten Ölgemälde und Gouachen. De Saint Phalle malt nicht typisch idyllische Szenen. Ihre Werke sind Bildergeschichten, die in der Fantasie weiter ausgeformt werden können. In ihren Geschichten tauchen Fabelwesen, Schlangen, weibliche und männliche Figuren, schlossähnliche Häuser zwischen Sternenwiesen oder Sonnen auf. Während dieser ersten wichtigen Schaffensphase wird der gemeinsame Sohn Philip geboren. De Saint Phalle verspürt den Wunsch, sich ganz der Kunst zu verschreiben, losgelöst von familiären Verpflichtungen. Sie trennt sich 1960 von ihrer Familie und lebt alleine in Paris. Dort beginnt sie mit dem Schweizer Künstler Jean Tinguely eine enge künstlerische Zusammenarbeit. Aus einer anfänglichen Freundschaft, die auf der Leidenschaft für Kunst beruht, entwickelt sich Mitte der 1960er Jahre eine Liebesbeziehung. Neben den gemeinsamen monumentalen Projekten stehen sie sich während ihrer ganzen künstlerischen Laufbahn beratend und unterstützend zur Seite. Durch Jean Tinguely gelangt sie in die Pariser Avantgarde und in den Künstlerkreis „Nouveaux Réalistes“. De Saint Phalle tritt 1961 das erste Mal mit dieser Gruppe in die Öffentlichkeit. Mit neuen Mitteln und Techniken gelingt es ihr, die Realität des täglichen Lebens in die Kunst zu integrieren.
Nach einer intensiven Phase der Beschäftigung mit Malerei geht de Saint Phalle in eine neue Schaffensphase über, in dem sie sich mit abstrakten Reliefen und Assemblagen beschäftigt. Sie montiert Gegenstände, sogenannte „objets trouvés“, die mit Gewalt zu tun haben, wie Beile, Scheren, Messer und Pistolen in ihre Reliefe und Assemblagen. Die Kunstwerke sind symbolgeladen und erinnern an Schmerz und Gewalt. Ausgehend vom Prinzip der Assemblage entwickelt de Saint Phalle ab 1960 sogenannte „Targets“. Hierfür befestigt sie an ein Holzbrett anstelle des Kopfes eine Zielscheibe und platziert darunter ein Männerhemd. Anschliessend wirft sie mit Pfeilen auf die Zielscheibe und vollendet somit die Bildentstehung. In Ausstellungen agiert de Saint Phalle nicht als Schöpferin, die ein vollendetes Kunstwerk präsentiert, sondern sie bindet Publikum und Zufall in den Formbildungsprozess ein. 1961 dehnt sie das Prinzip der „Targets“ weiter aus, indem sie präparierte Assemblagen mit Gips überzieht und darunter mit Farbe gefüllte Beutel platziert. Diese Farbbeutel bringt sie durch Gewehrschüsse zum Bersten. Wie bei den „Targets“ lässt sie während Ausstellungen die Besucher durch aktive Partizipation Teil ihres künstlerischen Konzepts werden. Diese sogenannten Schiessbilder führt sie in verschiedenen Formaten, Formen und Farben aus. Sie beschäftigt sich während zwei Jahren intensiv mit dieser neuen Form der Kunstproduktion und veranstaltet eine Grosse Anzahl von öffentlichen Aktionen in Galerien und Museen.
Nach zahlreichen Assemblagen und Schiessaktionen widmet sich de Saint Phalle ab 1963/64 dem Thema Frau und der Darstellung verschiedener Frauenrollen. Sie baut Gebärende, Mütter, Huren, Hexen und Bräute aus Maschendraht und Pappmaché und arbeitet Plastikspielsachen ein. Ihre Skulpturen erhalten jedoch nicht den gleichen Zuspruch wie zuvor ihre spektakulären Schiessbilder.
1965 beginnt de Saint Phalle eine Serie von weiblichen Figuren zu formen, die sie „Nanas“ nennt. Diese Figuren werden mit Polyester überzogen und farbig bemalt. Bei der Gestaltung verzichtet sie auf die Ausmalung der Gesichter, sie beschränkt sich auf Brust, Bauch, Arme und Beine, da diese Körperteile nicht so individuell sind wie die Augen oder die Nase. Die Weiblichkeit wird betont herausgelockt, indem jede Rundung übertrieben dargestellt wird. 1966 installiert sie auf Wunsch des Direktors Pontus Hultén, unter Mitarbeit von Jean Tinguely und des schwedischen Künstlers Per Olof Ultvedt, im Stockholmer Moderna Museet eine 28 Meter lange liegende Skulptur mit dem Namen „Hon“ (schwedisch für „sie“). Die Besucher können die Skulptur durch die Vagina betreten. Im Inneren der Figur befinden sich unter anderem eine Galerie, eine Milchbar und ein Planetarium.
Niki de Saint Phalle ist eine vielseitige Künstlerin, die sich mit den unterschiedlichsten Medien und Materialien auseinandersetzt. Sie beschäftigt sich neben Malerei und Plastik auch mit Druckgrafik, Film und Theater. Sie schreibt Gedichte und Bücher und verfasst intime Briefe, die sie mit ihrem eigenen Leben verknüpft und für die Öffentlichkeit zugänglich macht. Zudem gestaltet sie in verschiedenen Städten fantastische Gärten. Der wohl bekannteste Garten ist der Tarot-Garten in der südlichen Toskana (1978-1998).
Der bewusste Einsatz von „objets trouvés“, der gezielte Bruch mit dem traditionellen Kunstverständnis der1950er und 1960er Jahre, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich-moralischen Themen und die Einbindung ihrer eigenen Geschichte machen sie in den 1960er Jahren rasch zu einer viel beachteten Künstlerin. De Saint Phalle entwickelt eine Formensprache, die mit einer Kommerzialisierung einhergeht. Sie veröffentlicht in Anlehnung an ihre Kunstwerke unter anderem Bücher, Editionen, Designartikel, Schmuck und kreiert ein eigenes Parfum.
Niki de Saint Phalle stirbt am 21. Mai 2002 in La Jolla/San Diego infolge jahrelangen Lungenleidens. Giftige Dämpfe und feine Staubpartikel, die sie während der Arbeit an ihren „Nanas“ einatmete, führten zu schweren gesundheitlichen Schäden, die sie während ihrem Schaffen stark beeinträchtigten.
Selina Merdanli
Hannover, Sprengel Museum (Ausst.-Kat.), Von Niki Mathews zu Niki de Saint Phalle. Gemälde der 1950er Jahre, mit einem Text von Ulrich Krempel, Hannover: Sprengel Museum, 2002
Niki de Saint Phalle. Monographie: Malerei, Tirs, Assemblages, Reliefs, 1949-2000. Monograph: paintings, tirs, assemblages, reliefs, 1949-2000, mit Texten von Michel de Grèce (et al.), Lausanne: Editions Acatos; Wabern: Benteli, 2001
Hannover, Sprengel Museum (Ausst.-Kat.), Niki de Saint Phalle. Werke von 1952 - 2001 aus der Schenkung Niki de Saint Phalle an das Sprengel Museum Hannover und Leihgaben aus Privatbesitz, hrsg. von Ulrich Krempel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2001
Hannover, Sprengel Museum, La Fête. Die Schenkung Niki de Saint Phalle. Werke aus den Jahren 1952-2001, hrsg. von Ulrich Krempel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2001
Ulm, Ulmer Museum/Ludwigshafen, Wilhelm-Hack-Museum (Ausst.-Kat.), Niki de Saint Phalle. Liebe - Protest - Phantasie, hrsg. von Brigitte Reinhardt, Ulm: Ulmer Museum, 1999
Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Ausst.-Kat.), Niki de Saint Phalle, mit einem Text von Pontus Hulten, Stuttgart: Gerd Hatje, 1995
Fribourg, Musée d'art et d'histoire de Fribourg (Ausst.-Kat.), Niki de Saint Phalle. Aventure Suisse, mit Texten von Niki de Saint Phalle und Margrit Hahnloser-Ingold, Fribourg: Musée d'art et d'histoire de Fribourg, 1993
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Niki de Saint Phalle. Werke 1962-1968, mit Texten von Jean-Christophe Ammann (et al.), Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1969