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Werkbeschrieb
Im Jahr 1977 schafft der noch junge Land-Art Künstler Richard Long die Skulptur „Stone Spiral: 29 Stones“, die 1980 als Leihgabe in die Sammlung des Kunstmuseum Luzern gelangt. Wie der Titel andeutet, besteht das Werk aus 29 verschieden grossen, länglichen Steinen, die sich auf dem Ausstellungsboden in einer kompakten archimedischen Spirale aufreihen. Der Aufbau des Werkes ist in einem zugehörigen Zertifikat mit einer Zeichnung und einem Text sorgsam beschrieben. In der Mitte mit kleineren Steinen beginnend, wird im Gegenuhrzeigersinn jeder Stein um zwei mal die eigenen Länge vom vorhergehenden platziert. Alle Steine kommen auf ihrer längsten und stabilsten Seite zu liegen, der Abstand zwischen jeder Reihe soll ungefähr 20 cm betragen. Die Reihenfolge der Steine soll zufällig sein; dies ermöglicht einen gewissen Freiraum, der bei jedem erneuten Legen zum Tragen kommt – die Spirale visualisiert sich immer wieder anders.
Die puristische Ästhetik und der stark konzeptuelle Herstellungsvorgang bergen zwar eine gewisse Nähe zur Minimal und Conceptual Art der 1960er-Jahre, doch liegt dem Künstler eine Theoretisierung in diese Richtung fern. Vielmehr interessiert er sich für die sinnliche Erfahrung seines Werkes sowie dessen Beziehung zur Natur und Menschheitsgeschichte.
Im Wasserstrudel, im Schneckenhaus und im Tiefdruckgebiet manifestiert sich die Spirale in der Formensprache der Natur. Menschengemacht taucht sie mit umfassendem Symbolcharakter seit dem Paläolithikum in zahlreichen Kulturräumen in verschiedenen Zusammenhängen auf. Ohne sich an ein konkretes Beispiel anzulehnen, macht sich Richard Long die Allgemeingültigkeit der gewählten Form zu Nutze: Mit Naturphänomenen und kulturhistorischen Bezügen im Rucksack, entfaltet die Spirale auf dem Museumsboden eine kontemplative Universalkraft, die mit einer unmittelbaren Präsenz jedem Menschen zugänglich sein soll.
Vermutlich stammen die Steine aus dem schweizerischen Kanton Graubünden. Es handelt sich grösstenteils um Rheintaler Quarzit, doch befinden sich auch einige Granite darunter. Die einzelnen Stücke unterscheiden sich nicht nur in der Grösse, sondern auch hinsichtlich Beschaffenheit. Während unterschiedliche Verwitterungsstufen verschiedene Wettereinflüsse indizieren, offenbaren ihre heterogen strukturierten Oberflächen den menschlichen Eingriff in unterschiedlicher Ausprägung: Rauhe, beinahe unbearbeitete Flächen treffen auf fein geschliffene Flächen. Die Steine entpuppen sich als Bruchstücke, wie sie in Steinbrüchen als Restabfälle vorkommen und als Gebrauchssteine, die möglicherweise die Funktion von Bodenplatten und –friese hatten. Allen Steinen ist gemein, dass die glatte Oberfläche jeweils eigens für das Kunstwerk angebracht wurden, also letztendlich Spuren des Künstlers selbst sind. Die Steine sind demnach keine Fundstücke, die Long aus einer verklärten inneren Anwandlung heraus für geeignet befand, sondern sind Produkte eines klaren Auswahl- und Bearbeitungsprozesses. Zwischen Natur-, Nutz- und Kunst-Stein oszillierend, verhandelt das Material die Spannung zwischen Naturbelassenheit und Aneignung der Natur und verbinden die mysthische Dimension der Spiralform mit einem stark rationalen und selektiven künstlerischen Vorgang.
Denise Frey
Provenienz
Kunstmuseum Luzern, Leihgabe aus Privatbesitz, ab 2002 übertragen auf: Hooters AG, Erlebnisgastronomie, Chr. Schnyderstr. 1c, 6210 Sursee
Eingangsjahr:1988
Ausstellungsgeschichte
Landpartie. Skulpturen und Installationen aus den sechziger und siebziger Jahren, Willisau, Rathaus, 24.10.1998 - 08.11.1998
Sammlungsbilanz. 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 25.06.1989 - 10.09.1989
Die Spirale im menschlichen Leben und in der Natur - eine interdisziplinäre Schau, Basel, Gewerbemuseum Basel, 18.06.1985 - 15.09.1985
Terrain. Von Robert Zünd bis Tony Cragg – Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts und zeitgenössische Skulptur aus der Sammlung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 02.03.2007 - 05.08.2007
L'Etat des Choses I, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 03.04.1987 - 17.05.1987
Modell für ein Museum. Werke aus der Sammlung, mit der integralen Schenkung Minnich, dazu ein "Bilderzimmer" von Anton Henning und Allan Porters "I Am a Museum", Luzern, Kunstmuseum Luzern, 21.10.2006 - 11.02.2007
Neunzehnhundertsiebzig. Material, Orte, Denkprozesse, Luzern, 22.02.2013 - 27.11.2013
Balades avec le minotaure, Neuenburg, Centre Dürrenmatt, 06.12.2013 - 09.03.2014
Silence. Ausgewählte Werke aus der Sammlung, Luzern, Kunstmuseum Luzern, 04.07.2009 - 22.11.2009
Alles echt!, Luzern, 29.02.2020 - 22.11.2020
Literatur
Mit einem Vorwort von Janine Perret Sgualdo und einem Beitrag der Kuratoren Stefan Zweifel und Juri Steiner, Balades avec le Minotaure. Auf den Spuren des Minotaurus, 2013
Lichtin, Christoph, "Die Sammlung im Kunstmuseum Luzern", in: s/w visarte.bern, Nr. 3, 2007, unpaginiert
Loeliger, Walter / Wenzinger, Regula, Federleicht und vogelfrei. Lesebuch für das 4. Schuljahr, Buchs: Lehrmittelverlag des Kantons Aargau; Aarau: Sabe Verlag 2006, 2. Auflage
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Ausst.-Kat.), Landpartie - Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern auf Reisen im Kanton, mit Texten von Jean-Christophe Ammann, Theo Kneubühler, Ulrich Loock und André Rogger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1998
Oehen, Berta, "Zeit des Aufbruchs. Das Kunstmuseum Luzern zeigt im Rathaus Willisau Skulpturen und Installationen aus den sechziger und siebziger Jahren", in: Willisauer Bote, Nr. 164, 27. Oktober 1998, S. 17
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungsbilanz 11 Jahre - 1117 Werke - 211 Künstler und Künstlerinnen, Ergänzungsband 2 zum Sammlungskatalog, hrsg. von Martin Kunz, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1989
Ammann, Jean-Christophe, "Die Spirale im Werk von Richard Long, Mario Merz, Bruce Naumann und Robert Smithson", in: Basel, Gewerbemuseum Basel (Ausst.-Kat.), Die Spirale im menschlichen Leben und in der Natur. Eine interdisziplinäre Schau, Basel: MG Edition, 1985, S. 99-102
Luzern, Kunstmuseum Luzern (Slg.-Kat.), Kunstmuseum Luzern. Sammlungskatalog der Gemälde, mit Texten von Tina Grütter, Martin Kunz, Adolf Reinle, Beat Wyss und Franz Zelger, Luzern: Kunstmuseum Luzern, 1983
Bugmann, Urs, "Der Blick in Land und Raum", in: Neue Luzerner Zeitung, 3.3.2007, S. 11