Während seiner Ausbildungszeit an der renommierten und einflussreichen Accademia di San Luca in Rom wird Reinhard unter seinem Lehrer Niccolò Lapiccola die klassischen Fächer einer Malerausbildung genossen haben. Einen besonderen Stellenwert stellte hier das Studium der grossen Meister dar. Die angehenden Künstler sollten ihre ersten Eindrücke, welche ihr Qualitätsempfinden bilden und prägen sollten, gleich von den besten Vorbildern holen. Zu diesen gehörte insbesondere Raffael. Er war nicht nur einer der meistkopierten, sondern ebenso einer der meist reproduzierten Künstler. Bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatten Stiche von Raffaels Werken in Bezug auf ihre Verbreitung den Status, den heutige Postkarten haben, und an den Akademien wurden Stichwerke ausgiebig als Anschauungs- und Lernmaterial verwendet.
Die direkte Beschäftigung Lapiccolas, und in dessen Nachfolge auch Reinhards, mit Raffael ist nicht nur durch die damalige Praxis an der Akademie gegeben sondern durch überlieferte Werke gesichert. Von Lapiccola sind zehn Aquarell-Entwürfe nach Raffaels Zyklus „Geschichte der Psyche“ in Agostino Chigis Villa erhalten. Und von Reinhard befinden sich mehrere Zeichnungen nach Werken Raffaels in der Sammlung des Kunstmuseums Luzern, so etwa Figurenstudien nach Raffels Stanza d’Eliodoro oder seiner Stanza dell'Incendo di Borgo im Vatikan (KML Inv.-Nr. RH 84y, recto). Reinhard hat sich über eine lange Zeitspanne seines künstlerischen Schaffens, von der Lehrzeit an der Akademie, über Lapiccola bis in die späten Jahre, mit Raffael beschäftigt. Eine am klassischen Vorbild geschulte Körperauffassung ist denn auch in seiner Malerei, besonders in den späteren Trachtenbildern, aber auch noch in den späten Zeichnungen festzustellen.
Christoph Lichtin